Weiter hinauf reichen meine Worte nicht. Denn sie sind an die Erde gebunden, von wo unsere Sprache aufsteigt. Das Licht aber, von welchem IGADiM spricht, kommt aus einer anderen Sphäre.

 

 

Man muss bis an die Peripherie der Welt vordringen, um einen mit dem Christentum so verbundenen Menschen zu finden, wie ihn Herman Melville im Südseeinsulaner Quiqueg beschrieben hat: Quiqueg ist in Melvilles Moby Dick der einzige Mensch, der die Erwartung an einen Christen erfüllt, wenn auch unwissend vielleicht. Von der Zehenspitze bis zum Scheitel mit tief in die Haut geritzten Lemniskaten und verschiedenfarbigen Feldern tätowiert, schnappt Quiqueg beim Essen der Walfänger in der unterkühlten Kneipe bei Peter Coffin in Nantucket die Steaks mit der Walharpune vom Teller. Der wortkarge Sohn eines Häuptling von der Südseeinsel Rokovoko handelt mit Schrumpfköpfen. Er sieht aus wie ein Menschenfresser. In der Seele und in allen seinen Taten ist Quiqueg ein vollkommener Christ.

 

 

Während Quiqueg durch sein Handeln ein Stück Himmel unter die rauhen Walfänger herunter holt, reden die aufgeklärten Menschen vom Himmel im Allgemeinen. Nicht Gott oder sein Sohn, sondern der einzelne Mensch sei der Schmied seines Glückes, sagen sie. Nicht nur die Quäker bei Melville redeten so, sondern auch meine Nachbarn blasen in dieses Horn. Ja, ein Teil von mir selbst spricht so, wenn er sich mit jenen Menschen vergleicht, die als göttliche Vollstrecker ins irdische Glück eingreifen: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, bzw. dann bist du Gott. Jedenfalls brauchst du keinen Gott mehr, denn für dein Glück auf dieser Welt bist nur du allein verantwortlich.

 

Gebetmühlenhaft werden die Regeln des Glücks herunter geleiert. Der Stoßtrupp der Glücksritter stellt ihrem mit Erbrechten gepflasterten Weg die Ausbeutung anderer Menschen an die Seite.

 

„My God, what a big luck,“ skandiert der Spieler in Dostojewskis gleichnamigen Roman. Er schlägt beim Treffer im Lotto die Hände über dem Kopf zusammen. „Dio cane“ schreit der Fan beim entscheidenden Tor seiner Fußballmannschaft, die in Form von kleinen Farbpunkten vor ihm auf dem Bildschirm hin und her rennt. In Pariser Cafés ertönt das „mon dieu“, wenn das schmale Kuchenstück auf dem Tellerchen umkippt und in der aus der Form geratenden steifen Sahne vergeblick nach Halt sucht. Oder die Hausfrau in Gerhard Polts Lachnummer, die in der Flimmerkiste auf dem Küchentisch die Nachrichtenbilder einsaugt und Zeugin wird, wie sich Russen und Afghanen mit Messern und Gewehren massakrieren. Alles verkraftet sie, nur nicht, dass es in der Küche angebrannt zu riechen anfängt. Blitzschnell erwacht sie. Zu spät hat sie sich von den Kriegsbildern losgerissen. „Oh Gott, warum nur“ stößt sie zitternd aus und zieht einen verbrannten Braten aus dem Ofen.

 

Die Schleier liegen in Fetzen auf entweihtem Boden. Wer hat Angst vor dem Anblick der Dinge, wie sie einst hinter dem Vorhang als Schutz vor den Menschen verborgen waren? Es gab Zeiten, in welchen die Menschen wussten, wovor sie den Blick wegwendeten. Im Mittelalter gab es Kapellen, die dem Volk die Darstellung der Kreuzigung Christi vorenthielten. Was einst als Intimsphäre tabuisiert und mit Verzichten und Verboten beschlagen war, wird nun mit dem Riechsinn von Trüffelschweinen vor die Linse gezerrt, begrabscht, in Worte gezwungen, pornosophisch in Bilderexzessen vervielfältigt. Unter Flutlicht werden die Meinungen ins Jetzt gebannt. Der zerrissene Vorhang wird angeglotzt und angefasst wie die Unterwäsche einer gekauften Liebesdienerin. Sprüche begleiten das frohe Geschehen, welches mit versteckter Kamera gefilmt und live millionenfach in die Sendeschüsseln von friedliebenden Haushalten gekippt wird. Die Produktoptimierung in der Werbung hat der Nabelschau der Werbung selbst längst Platz gemacht hat. Das Mitmachen ist um des Mitmachens Willens da. Niemand fragt, während er sich mit Fun-Utensilien seinen Leib um die Seele schnürt, ob sich der Aufwand denn auch lohne.

 

 

 

Was zur festen Koordinate geworden ist, das ist die Körperlust, ob wir sie haben oder nicht. Der Reibeffekt am Fleisch und der Wunsch nach noch mehr nimmt ständig zu. Immer mehr Geist will ungebremst in die Materie hinein. Der Gang in die Materie ist der Highway der neuen Einweihungen. Die Flut der Autos steigt über das enger werdende Rund der Welt. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn China erwacht und nachholen will, was im Westen längst am Zusammenbruch der Systeme entlang hangelt. Ist aber China nicht schon längst aufgewacht? Und wovor hätten denn wir das Recht, die Chinesen zu warnen? 

 

 

Die Märkte jedoch sind unschuldig daran. Der Mensch bestimmt den Erfolg des Produkts, nicht der Markt. Wenn die Materie den Menschen zu manipulieren anfängt, ist diese Form der Manipulation der sublime Wunsch einer genügend großen Menschenmasse. Der Markt ist nur der Spiegel dieses Wunsches. In der Produktion entweihter Bilder setzt der flinke Markt, denn flink ist er alleweil, die Träume der Menschen in Szene. Dies tut er so lange, bis wir andere Wünsche haben. Der Markt ist wie der Tod, beide tun nur ihre Arbeit. Der Tod hat keine Schuld an unserem Hinscheiden, vielmehr gleicht er die Schuld aus, die wir auf uns laden.

 

Andy Warhol verteilte in seiner Factory tödliche Spritzen an seine genialischen Freunde. Er filmte ohne Gesichtsregung, wie sie in Orgien jenem letzten Tag entgegendämmerten, aus dem sie nicht mehr erwachen würden. Seine Filme mit den anderen als Laiendarstellern machten ihn berühmt, Andy Warhol borgte kostenlos die Ideen der Freunde und ging, mit ihrem Geistesgut im Gepäck, den langen Weg durch die Institutionen der Kunst. Jahrelang diente er sich mit der Opferhaltung eines Aljoscha Karamasov empor, um, am Ende glücklich und erschöpft, als Nummer Eins der Kunst im 20. Jahrhundert auf das oberste Leiterchen des Erfolges zu steigen.

 

Die Phalanx westlicher Staaten- und Menschenächter, Vergewaltiger ganzer Nationen über das weite Rund einer eng gewordenen Erde, seht, wie sie den Milliardären mit selbst gemachten Gesetzen Geld in den Hintern schieben. Heerscharen von Frauen rissen und reißen sie die Blüte des Lebens herunter, während ihre Gattinen zuhause vor Talkshowmastern in Livesendungen das Hohelied der Ehe singen.

 

Was rede ich von westlichen Staaten- und Menschenverächtern? Geht weiter mit mir um die Welt und seht: Mao wie Clinton, im Tun unterscheidet sie nichts. Eine feuerfeste Decke über sie, eine betonverstärkte Asbestplatte über den Abfall, den sie hinterlassen haben! - Oder Stalin, oder Saddam Hussein. Der eine vergnügte sich als Kriegssieger, den Zigarettenstummel im Mundwinkel, schob er Ländergrenzen auf den Landkarten hin und her wie andere die Steine vom Spielbrett, wenn sie Dame spielen. Der andere geht, von einem seiner Minister begleitet, aus dem Sitzungssaal. Der Minister hat eine von Saddams Überzeugung abweichende Meinung geäußert, worauf ihn dieser im Nebenraum mit der locker in seiner Hose sitzenden Pistole erschießt, um gelassen zur Sitzung zurückzukehren.

 

 

Ich bin auf dem Rückzug vor der großen, lauten Welt, welche die anderen als Bühne für ihre Erfolge benützen, Frauen genauso wie Männer. Sagt nicht, es gehe deshalb so elend zu in der Welt, weil wir von Männern regiert werden. Eine Regierungspräsidentin hatte den Spitznamen ‘Parteimatratze‘. Sie optimierte in ihrer Blütezeit als attraktive Frau die senkrechte Ausrichtung ihrer Laufbahn mit dem persönlichen Einsatz gezielter horizontaler Schäferstündchen.

 

Und die Königinnen unserer Erde? Sollten wir sie vergessen? Sollten wir sie hier heraus nehmen? Sie sind ein eigenes Kapitel in der Geschichte der außer sich geratenen Menschheit. - Mick Jagger sei von der englischen Königin in den Adelsstand gehoben worden, grinste mir kürzlich jemand ins Gesicht. Was richtet dagegen das biedere Ende in Bert Brechts Dreigroschenoper aus, wo der Killer und Bastard, jener Mädchenschänder Mackie Messer von der englischen Königin mit Adel und Millionen in die zweite Hälfte seines Lebens entlassen wird. Die Welt spielt verrückt. Die Wirklichkeit beleidigt nicht nur die Scheinwelt der Kinos, sondern ebenso die Ideenwelt der Dichter und Denker. Sappho und Kleopatra haben sich zu Tode amüsiert. Doch während uns bei der Erinnerung an sie ein leiser Schauer über den Rücken geht, treten Frauen ihres Schlags heute massenhaft als braungebrannte Urlauberinnen auf. Sie lachen aus jedem zweiten Mädchengesicht.

 

Wie aber, wenn sich im Hintergrund dieser Szenerie eine Unzeitgemäßheit ereignete, die von niemand erdacht, von niemand ertrotzt ist? Wie, wenn die gegenwärtige Gleichzeitigkeit von Armut und Reichtum, einfacher Lebensrealität und sublimer Kunstwelt nicht als scharf konzipiertes Ziel an uns heran tritt, sondern ohne Vorsatz, ohne Zorn und moralische Zeigefingergebärde? Wie, wenn einer aufträte, auf der Schwäbischen Alb, in Arkansas oder im mongolischen Gebirge, der ins weite, grüne Land ein plankenmächtiges Holzschiff baute, wie ein solches schon einmal durch Noahs Tat unsterblich geworden ist? Wie, wenn Moses mit neuen Tafeln einherzöge, selbst erstaunt über sein Tun, und die Menschen belehrte? Wie, wenn sich ein vorbildlicher Mensch erhöbe und sein Leben lachend und froh der Menschheit als Geschenk opferte?

 

Wie müsste dieser Mensch erscheinen, damit wir nicht an ihm vorübergingen? Mozart oder Bach im Bach- oder Mozartkonzert, es ist nicht auszudenken. Rudolf Steiner, wie er in einen anthroposophischen Zweigvortrag ginge, das ist eine unerträgliche Vorstellung. Christus, der nicht vor zweitausend Jahren, sondern in unserer Gegenwart auf die Welt gekommen wäre, das ist ganz und gar unvorstellbar und unglaublich, auch wenn noch nie so viele Christen auf der Welt gewesen sind wie heute.

 

Andy Warhol ist mir in gewisser Hinsicht tief vertraut und nah. Ich halte ihn nicht nur deshalb für bedeutend, weil Joseph Beuys nicht abließ, seine Wichtigkeit für die Kunstgeschichte in ihrer Verbundenheit mit wirtschaftlichen Fragestellungen zu betonen. Vor einigen Jahren sah ich in Kassel eine Ausstellung mit den überdimensionalen Siebdrucken von Andy Warhol mit Motiven aus der abendländischen Malerei. Die verräterische Hand des Judas aus Da Vincis Abendmahl hatte er mit eiserner Notwendigkeit und bewundernswerter Sicherheit durch Vergrößerungen bis an die Schmerzgrenze in ihrer kosmischen Bedeutung des nicht wiedergutzumachenden Verrats fokussiert. - Fast wie selbstverständlich hängt der Siebdruck mit dem Goethekopf in meiner Wohnung, er ist um Vieles besser und goethischer als das peinliche Original von Tischbein in Frankfurt.

 

Die einschlägigen Werkhallen des horizontalen Gewerbes in Paris aber und die dazugehörigen Illuminierungsboxen lernte ich wie in einem Film auf einer Irrfahrt durch die regnerische Metropole kennen, wo ich mit meiner Familie auf dem Weg nach Chartres zu früh von der Autobahn herunter gefahren und nun verurteilt war, in einer über Stunden sich hinziehenden Irrnis im Schrittempo durch die Millionenstadt zu rollen.

 

Vielleicht sollte ich alles, was hier wie eine Erfahrung von Schmerz an einer durch bestimmte Namen und Menschen verderbten Welt daherkommt, filtern und verdrängen. Soll ichs löschen? Oder ich müsste alles vertiefen durch wirkliche Studien, wozu ich jedoch  keinerlei Bedürfnis verspüre und auch keine Zeit habe.

 

 

 

 

 

Während ich die meisten Dinge, die ich oben an Namen festgemacht habe, nur durch die Vermittlung öffentlicher Dokumente kenne, bin ich mit IGADiM seit 1999 wirklich bekannt. Im Fahrstuhl der damals soeben fertig gestellten Autotiefgarage von und zu Weimar, du, Stadt meiner Hassliebe, waren wir zusammen gestoßen. Er war gekleidet mit einer Jacke,sie zierte auf der Brust  die Aufschrift Kunstwerk Erde . IGADiM war als teilnehmender Künstler bei einer  Vernissage im Cranachhaus unterwegs und machte mit Schlägen auf einen über die Schultern gehängten Gong auf seine rot angemalten Betonblöcke aufmerksam, die überall auf der Welt standen und einer sich zu diesem Zeitpunkt auch in Weimar befand. Ich war mit meiner Familie unterwegs zu Goethe und dem zweiten Goehte-Gartenhaus im Ilmpark. Ich war in Feierstimmung, wegen Goethes 250. Geburtstag, auch schien mir zu jener Zeit das Projekt zu gelingen, das ich mir vorgenommen hatte, nämlich ein Buch zu schreiben, Meine Tage mit Goethe 1999.

 

Jahre sind vergangen. Der Kontakt zwischen IGADiM und mir hat sich gefestigt. Wieso hätte ich ausweichen sollen, als ich Ende 2001 seinen Anruf entgegennahm? Ich sagte „ja, ist in Ordnung - klingt interessant.“  Und ich sagte: „Komm doch vorbei, wenn du am Telefon nichts weiter erzählen willst. Wenn du da bist, werde ich mehr erfahren“. Das neue Jahr kam heran. Am 3. Januar 2002 stand IGADiM, wie telefonisch angekündigt, unter der Haustür. Links und rechts an seinen Beinen lehnten je eine Bronzeplatte, mit der rechten Hand auf Hüfthöhe hielt er die Platte rechts, mit der Linken die Platte links. Aufrecht wie Moses, so stand IGADiM vor der Türe und sagte: „Hallo.“ Zwar hatte er die Metallplatten nicht vom Berg Sinai herunter getragen, sondern sie mit einem schwarzen Volvo aus dem Ruhrgebiet geholt. Dennoch wehte über seiner Erscheinung ein biblisches Bild.

 

Er wolle mit diesen Tafeln die Documenta 11 eröffnen, sagte IGADiM. Ungeachtet der Tatsache, dass die Documenta erst am 8. Juni des Jahres eröffnet werden sollte, stand der Querdenker aus Haltern am dritten Tag desselben Jahres mit seiner Botschaft vor meiner Haustür in Kassel. Zweitausend Journalisten aus aller Welt sind bei der Eröffnung der Documenta in Kassel. IGADiM genügte meine Familie als offizielle Begrüßungsinstanz vor Ort. Der Mann, der an die Menschen glaubt, wünschte, dass die Eröffnung der Documenta bei uns im Garten und unter Ausschluss der Öffentlichkeit über die Bühne gehe.

 

IGADiM stellte die Bronzetafeln neben die Haustüre und holte den Fotoapparat aus dem Wagen. Ich erwischte mit einigem Glück einen befreundeten Fotographen aus dem Quartier. Draußen lag Neuschnee. Wir hatten zwei Tage Zeit, um alles vorzubereiten. Die Eröffnung der Documenta 11 wurde durch IGADiM in den Neuschnee der ersten Januartage auf den 6. Januar 2002 vorverschoben. Die Aktion wurde im Bild festgehalten, von ihm selbst, von meiner Frau und vom beigezogenen Photographen. Später wurde sie von IGADiM fürs Internet präpariert. Unsere vier Kinder halfen energisch beim Öffnen der Erde, denn die Bronzetafeln wollte IGADiM senkrecht in Kasseler Erde versenken, um sie auf den Sommer des gleichen Jahres hin wieder daraus zu befreien und einem neuen Zweck zuzuführen. Die oberste Schicht war aus Eis und fest gefrorener Erde. Sie hielt eine gute Weile den Pickelschlägen stand. Nicht nur die Kinder, sondern auch wir Erwachsenen kämpften im schneebedeckten Garten mit der glasharten Materie.

 

Die Kinder erlebten die Aktion wie das Vergraben eines wertvollen Schatzes. Sie hatten in den Tagen zwischen dem 3. und dem 6. Januar verfolgt, wie an den Abenden Gäste bei uns waren und über die Tafeln, welche drei Tage lang im Haus aufgestellt und beleuchtet waren, Gespräche führten. Dies, zusammen mit der heiteren Ernsthaftigkeit, in welcher IGADiM seine Idee in die rauhe Kasseler Wirklichkeit stellte, dann das Wissen, wie teuer der Bronzeguss einer solchen Tafel war, schließlich auch die Stimmung, die der Wind und der frische Schnee am Nachmittag unserer Versenkung verbreiteten, begeisterte alle. Es war uns nicht zu kalt, um das Treiben im Schnee nicht lustig zu finden. Wir wussten, dass nach getaner Arbeit das Wohnzimmer auf uns warten würde mit einem Feuer im Kaminofen und mit Kuchen, Kaffee, Tee. Außerdem war Epiphanias.

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Tritt ein in dein Stübchen‘, sagten die Wüstenväter am Anfang der Einweisung ihrer Schüler. Stübchen heißtcubiculum,  es ist die Kammer, in welche sich der Adept zu seiner Begegnung mit der Stille in der Wüste um ihn herum zurückzieht. Das cubiculum aber ist ein Teekesselchen, es meint gleichzeitig Kiste, Kammer, Würfel, Höhle, Sarg, Noahs Arche, ja selbst das goldene Jerusalem, es heißt Stube oder Stübchen - Studierzimmer, bei Beuys geht es bis ins Schädelinnenerlebnis, beziehungsweise Winterschädelerlebnis, wie eine seiner erstaunlichsten Zeichnungen heißt. Der Einkehrer in der Wüste soll - und wo ist sie nicht, die Wüste -, bevor er mit irgend etwas anderem beginnt, aus der Welt heraus in einen Innenraum herein. Dann wächst die Wüste. Und mit ihr die Stille. In Gedanken sitzt er zwischen den Innenwänden seines Kopfes und ruht vor den Geschäften der Welt, er schweigt und wird still.

 

Intra in cubiculum tuum, tritt ein in dein Kämmerchen, tace et requiesce, schweig und erhol dich vom lauten Getriebe der Welt, mit diesen Worten entführen die Gottsucher in der Wüste ihre Adepten aus dem Lärm dieser Welt. Dies ist die Voraussetzung, damit sich etwas einsenkt. - Die Wüstenväter begegneten Gott im cubiculum.

 

- Anselm von Canterbury erging sich in seiner Klosterzelle. Glaubend suchte er die Einsicht des Geistes und wurde von einem Gottesbeweis heimgesucht.

 

- Christian Rosenkreutz saß, ins Gebet vertieft, in seinem windigen Häuschen am Berghang, da erhob sich ein Angst verbreitender Wind und ein Engel trat unter die klapprige Tür.

 

- Im Dunkel seiner Arbeitsstube saß Jakob Böhme über den Nähten eines Lederstreifens und fertigte unter seiner geüben Hand im gebündelten Licht des Schusterglases einen Schuh. Da schoss ein hohes Licht in seinen Geist, und wie Böhme das sah und wie er weiter nähte, war er nicht mehr länger der fünfundzwanzigjährige Schustermeister wie bisher.

 

Ihnen allen ist ein Licht aufgegangen in ihrer Seele. Ein Licht hat sich über ihr Leben gestellt. Bei allem Regenwetter, das darauf folgte, bei allen Verdunkelungen durch das alltäglliche Leben trugen sie die Flamme und das Flämmchen dieses Lichtes weiter, bis es Wort und Tat wurde, oft über Jahre, Jahrzehnte.

 

IGADiMs Worte, die er dreißig Jahre nach dem Lichterlebnis in zwei Lindentafeln schnitzte, um diese dann in Bronze zu gießen, beginnen folgendermaßen: „Ich saß am Tisch, die Sonne fiel durch das Fenster. Es kamen Wolken, wieder war die Sonne sichtbar. Ich schrieb, skizzierte auf Blätter, ich war konzentriert.“ In dieser Arbeitsstimmung erreichte ihn ein „wunderschön helles Licht“.

 

Bei Christian Rosenkreutz kam „einsmals ein solch grausamer Wind daher, das ich nit anders meinte, dann es wurde der Berg, darein mein Häußlein gegraben, vor grossem gewalt zerspringen müssen.“ Aus diesem Wind trat ein „schön herrlich Weibsbild“ hervor, das dem verschreckten Beter in seinem Häuschen ein ‚Briefgen‘ überreichte und ihn damit auf jenen Weg schickte, der aus dem armen Beterlein den großen Wegbereiter des Rosenkreuzertums machte.

 

Auch Anselm von Canterbury war in der Kammer und hatte gebetet. Da überblendete seine bisherigen Gedanken das Licht des großen Gedankens, den die Nachgeborenen einen Gottesbeweis nannten. Mit dem neuen Gedanken griff ein Geisteslicht unter die Flügel von Anselms Leben und verwandelte auf einen Schlag die Existenz dieses ‚ächtkatholischen‘ (Novalis) Mannes. Anselm von Canterbury, der im Mittelalter zwischen Kirche und Staat fast zerrissene, tiefgläubige Verehrer der Schöpfung, erlebte, wie seine Glaubenssuche durch die Kraft des Geistes ruckartig beendet war, denn: Gott ist das, gegenüber dem Größeres nicht gedacht werden kann. Bis heute hat dieser Gedanke Verehrer und ebensoviele Bekämpfer gefunden. Unter amerikanischen Philosophen erfolgte in den 1980er- Jahren ein Revival des Ontologischen Gottesbeweises, wie dieser Gedanke auch heißt. Anselms, der Gott dadurch für bewiesen erklärt, dass er ihn als dasjenige denkt, gegenüber welchem Größeres nicht gedacht werden kann, beschäftigt die Gottsucher bis heute.

 

Fünfhundert Jahre später saß ein anderer Mann in der Stille seiner Kammer. Jakob Böhme hatte keine höhere Bildung genossen, sondern höchstens während seiner Gesellenjahre als angehender Schuster in den hermetischen Schriften von Paracelsus geblättert. Von den Kämpfen im beginnenden 17. Jahrhundert zwischen Katholiken und Protestanten, die in der Folge zwei Drittel der europäischen Bevölkerung dahinrafften, verstand er sich trotz seiner inneren Nähe zu Christus fernzuhalten. Mit fünfundzwanzig richtete er sich eine neu erworbene Schusterbude in Görlitz ein. Er hatte mittelprächtig geheiratet und von seiner Frau bürgerlichen Besitz und ein Söhnchen bekommen. Da saß er an seinem Arbeitstisch, Jakob Böhme, der Repräsentant eines festgestellten Lebens im fokussierten Lichtstrahl des Schusterglases und wurde von einem Licht heimgesucht. Zwölf Jahre später, in seinem Erstling Die Morgenröthe im Aufgangk oder Aurora, gab er bekannt, dass er viele viele Jahre habe warten müssen, bis sich anfängliche Worte für die Beschreibung dieses Lichtes eingestellt hätten.

 

Und IGADiM? Auch er sitzt in einer Kammer, wie Anselm von Canterbury, wie Christian Rosenkreutz, die Wüstenväter in der Stille von Nordafrikas Wüste oder Jakob Böhme in seinem putzigen Reihenhäuschen an der Neiße mit Blick gegen Westen, heute liegt es in Polen, an der äußersten Grenze zu Deutschland. IGADiMs Kammer war ein Raum in seinem Elternhaus in Herten, wo sich damals noch die Skulptur Vacuum<->Masse von Joseph Beuys befand. Von Herten aus begann IGADiM viele Jahre später eine Fußwanderung von mehreren hundert Kilometern, die an den Gerichten vorbei führte, die in seinem Leben als Künstler, Kunstsammler und Industriellensohn eine prägende Rolle spielten und teilweise immer noch spielen. Kopfschüttelnd gehe ich durchs Land - und verneige mich vor den Gerichten nannte er diese Aktion.

 

Selbstvergessen in seine Arbeit vertieft, empfängt IGADiM ein Licht, wie er keines gefühlt und gesehen hat bisher. Und das Licht tritt aus der hellen, umhüllenden Wärme heran, und IGADiM und dieses Licht „kommunizierten miteinander“. Ein „Liebeslicht“ trifft ihn und er fühlt sich „sehr geborgen“.

 

IGADiM behält das Erlebnis bei sich. Was bleibt ihm anderes übrig. Auf einer Autofahrt 1980 erzählt er Joseph Beuys, seinem Meister, davon. Er fährt Beuys mit dem Auto nach Düsseldorf und erzählt ihm im Wagen von seinem Erlebnis. Beuys habe sehr intensiv zugehört .Schweigend habe er mit dem Kopf genickt,mehrmals zu ihm hinübergeschaut, er sei sehr nachdenklich und betroffen gewesen. Von Beuys hat er sich verstanden gefühlt. 

 

Auf das Erlebnis folgen Jahre der geistigen Verdauung. Wenige Menschen wissen etwas vom Lichterlebnis. Drei Jahrzehnte gehen ins Land. Wie fallender Schnee mit seiner weißen Decke die Landschaft unter sich erstickt und das, was sich aussprechen will, ungehört macht, so geht Wolfgang Wendker unter seinem bürgerlichen Namen in den mäandrischen Wegen des Alltags durchs weitere Leben. Er macht Erfahrungen an der Grenze zum Tod. Einmal, in einem Augenblick äußerster Erschöpfung, findet ihn der Name IGADiM.

 

Lange bleibt IGADiMs Lichterlebnis im Dunkel unauslotbarer Sprachlöcher verborgen. Aktionen in der Kunst weisen in feinen Anspielungen darauf hin. Sie speisen sich aus seinem Lichterlebnis, ohne dass sie darauf allzu erkennbar Bezug nehmen. Durch den Verdauungsprozess nimmt im Jahre 2001 das Liebeslicht von damals die Worte an, wie sie nunmehr auf den beiden Bronzetafeln nachzulesen sind. Als Sechzigjähriger,nach dreißig Jahren, ist es IGADiM möglich geworden, in verbindlichen Worten über dasjenige zu sprechen, was damals durch das Fenster herein schien und sein Schreiben und Skizzieren über sich selber hinaushob und das ganze weitere Leben verwandelte.

 

Was Anselm sein Gottesgedanke war, das ist IGADiM sein Lichterlebnis geworden. Beide konnten nichts mehr finden, was ihrem Erlebnis gegenüber größer hätte genannt werden können. Und dennoch, wie Anselm, der, nachdem er im zweiten Kapitel seines Buches Proslogion die Existenz Gottes, wie er überzeugt war, bewiesen hatte, über zwanzig weitere Kapitel benötigte, um diesem Gedanken mit Dank- und Begeisterungsgebeten den notwendigen Raum zu schaffen, so fand IGADiM für das Licht vor dreißig Jahren weitere Namen, die wie Folgekapitel den Haupttext ergänzen: „Liebeskraft“ und „Michael“, „Stellvertreter“ oder „Melder“, „Christus, das Sonnenwesen“ und „Jordantaufe“.

 

Am 6. Januar 2002 tritt IGADiM mit seinen Tafeln an die Öffentlichkeit. Wenige Menschen nehmen daran teil, einige, die zwischen dem 3. und 5. Januar davon unterrichtet werden, wollen es nicht genauer wissen, sie bleiben fern und erscheinen nicht zur Einsenkung der Tafeln in die Erde. Wenige können mit diesen Tafeln etwas anfangen, ich kann es wie kein anderer verstehen.

 

Höher hinauf reichen meine Worte nicht. Zwar weht der Schleier inzwischen in einem versöhnlicheren Licht, doch wer weiß, ob statt einer Erkenntnis nicht der Nöck, sagen wir Scarbo, hinter dem Vorhang sitzt und, in sich hinein kichernd, die Fäden meiner Gedanken entzwei reißt? Mein Leben ist eine Spirale, die in sich selber kreist. Rilkes wachsende Ringe, wie er sie durch das Leben trug, taugen vor allem für die Wörter in seinen Gedichten. Wie sich diese Ringe auf das Leben anderer beziehen, kann nur jeder bei sich selbst prüfen. Die Sprache, die mir gegeben ist, spannt sich wie die Federn eines Uhrwerks, an dessen Räderwerk so lange gedreht wird, bis das Aufziehwerk platzt und der Fortgang der Zeit aus der Linearität heraus und in sich zusammen fällt.

 

In IGADiMs Tafeln begegnen mir Momente eines Lichts, das zu erkennen ich womöglich auf die Erde gekommen bin, das zu sehen mir jedoch vielleicht für immer vorbehalten bleibt.

 

Es ist Sonntag, der Lärm der Werktage, der über den Städten und Dörfern wie eine nah über die Menschen gehängte Hölle tobt, nota bene eine angenehme Hölle, zu deren Getöse die meisten Menschen heute gern und mit Lust ihr eigen Schärflein Krach beitragen, dieser Lärm ist für heute wenigstens bis zur Abenddämmerung stillgelegt. Ich komme vom Bäcker, ihn selbst habe ich nicht gesehen, aber die vielen flinken Verkäuferinnen, die zwölf Brötchen aus den Regalen zusammen stellten und in eine Papiertüte verstauten. Die Stille verändert meinen Atem, anders kann ich es nicht sagen. Ich trage die Brötchen, beziehungsweise die Tüte mit den Frühstücksbrötchen unter dem Arm, als wäre kein Gewicht daran. In diesem Augenblick kommt mir mein jüngstes Kind in den Sinn, wie es aus heiterem Himmel mit strahlenden Augen gesagt hat: „Wie schön, dass es mich gibt.“ - Beim Bezahlen an der Theke in der Bäckerei habe ich einen Blick über die Zeitschriftenauslage hin geworfen. Auf der Titelseite der Bildsonntagszeitung schnappte ich die Schlagzeile auf. Es ist wieder etwas Grässliches passiert.

 

 

Auszug aus: "EIN FAST NORMALER TAG,WENN SICH NICHT BESONDERES EREIGNET HÄTTE."

Die 2 Tafeln von IGADiM

Von Dr.Albert Vinzens